Mittwoch, 8. Oktober 2014
Über Reichtum
Was ist Reichtum? Was Armut? Wie kann man bestimmen ob es einem Menschen gut geht, oder gar einem Volk? Kann man das mit dem Wirtschaftswachstum berechnen? Oder der Gesundheit? Der Kaufkraft?
Man kann sich mit Hilfe dieser Daten vielleicht grobe Vorstellungen machen, wie der durchschnittliche Lebensstandart in einem Land ist, aber ich glaube, dass sie lange nicht ausreichen, um die Realität widerzuspiegeln: Die Konzepte allein sagen also nicht alles aus, und so müssen die Schlussfolgerungen, die man aus ihnen ziehen kann, relativiert werden.

Beispiel: Gut, hier gibt es viele richtig arme Leute die in Mülleimern rumwühlen. Es sticht mir ins Herz wenn ich das sehe. Aber sie betteln nicht. In dieser Millionenstadt habe ich eine Frau konkret betteln sehen-aber sehr viele die es tun könnten und stattdessen an einer schmutzigen Ecke am Straβenrand Beeren oder Ramsch verkaufen! Hat das mit Stolz zu tun? Mit der Ehre vor sich selber als Mensch?
Es gibt viele Spielplätze hier. Sie sind gut besucht. Viele kleine Kinder, viele junge, schwangere Frauen, junge Paare. Sagt das nicht auch etwas aus? Brauchen die Leute eine gute Politik um ein gutes Leben zu haben, eine starke Wirtschaft, um irgendwie zufrieden zu sein? (Geht es nicht letzten Endes darum, zufrieden zu sein?) Sie kommen, glaube ich, teilweise besser klar als wir. Das Leben ist sicherlich hart, und teuer-aber ist es deshalb schlechter? (Was die Anzahl der Kinder angeht, ist das Ganze wohl komplizierter; da es jetzt ein neues Programm gibt, das Eltern finanziell relativ stark unterstützt-allerdings nur mit einer gröβeren Geldsumme, sofort nach der Geburt.)

Ich arbeite ein paar Mal die Woche mit einem Jungen, der nicht reden, nicht laufen und nur mit Schwierigkeiten schlucken kann. Seine Feinmotorik ist so gut wie nicht entwickelt; er kann also weder kontrolliert greifen noch einen Gegenstand anständig festhalten. Er ist komplett unselbstständig. Aber er kann sich dennoch relativ gut mitteilen: In einer Stunde kann er manchmal mehr Emotionen ausdrücken, als einige Menschen in einem Jahr, glaube ich. Er weiβ sicherlich ganz genau, was Liebe und Zuneigung bedeuten, und wie sie sich anfühlen-seine Mutter, sogar sein Vater (unüblich in Russland) kümmern sich rührend um ihn, zeigen ihm offen und, vor allem öfter, als es unter Menschen der Fall ist, die gesund sind, dass er ihnen wichtig ist, und, dass sie ihn lieben. Und auch er drückt seine Zuneigung, wenn auch auf seine manchmal andersartige, vielleicht für Auβenstehende missverständliche Art, aus: Wenn er versucht, seine Mutter zu beiβen, drückt das Zärtlichkeit aus, beispielsweise.
Als ich ihn das erste Mal gesehen habe, hatte ich Mitleid mit ihm, wegen der Tatsache, dass er niemals eine beliebige Handlung wirklich alleine zustande bringen wird. Doch ist dieses Mitleid denn berechtigt? Hat dieser Junge denn nicht genau das, wovon so viele Menschen träumen, was in so vielen Filmen, Büchern, thematisiert wird: Liebe,Zuneigung, Gesellschaft von Menschen, die ihn gern haben?
Gut, das Mitleid bezieht sich nicht auf diese Aspekte. Aber vielleicht ist da auch ein wenig unberechtigter Neid auf die grenzenlose und hingebungsvolle Liebe.
Trotzdem wollte ich nicht mit ihm tauschen. Ich habe eben diesen Drang zur Selbstverwirklichung, zum Fortschritt, einen gewissen Ehrgeiz. Er nicht. Sein Umfeld verlangt das auch logischerweise nicht von ihm. Wieso immer das Unvergleichliche rational gegenüber stellen und entscheiden wollen, was denn nun besser ist?
Wieso immer alles reduzieren auf das, was zu fehlen scheint und sich nicht auf das konzentrieren, was reell existiert und positiv ist? Vielleicht so positiv, dass es Mängel sogar ausgleichen kann. Wir leben in einer Welt der Vergleiche.
Doch wie kann man Zufriedenheit vergleichen wollen?
Die Familie, vor allem die Mutter, die sich ganz und gar der Pflege und dem Wohlbefinden ihres Sohnes verschrieben hat (ist das nicht in einer gewissen Hinsichte besser als alle ach so teuren und modernen Infrastrukturen bei uns?), haben sich mit diesen Umständen abgefunden. Es ist rührend, diese Familie (es gibt auch eine jüngere Schwester) im Alltag zu beobachten!
Ich glaube, dass sie zufrieden sind. Jedenfalls nörgeln sie nicht pausenlos, wie ich es zu hause so oft beobachten musste.
Es ist, vor allem in solchen Fällen, absolut notwendig aus unseren Denkmustern auszubrechen,und sich bewusst zu werden, dass unsere persönlichen Wahrheiten allzu oft nicht mit den Situationen anderer übereinstimmen oder mit ihnen zu vergleichen sind.

Dieser Junge braucht also kein Mitleid. (Jedenfalls so lange wie sich seine Mutter um ihn kümmern kann.) Ich glaube, dass er, auf seine Art, glücklich, und deshalb reich ist.

PS: Eine Bemerkung, die nichts mit dem Thema zu tun hat, und die an alle geht, die ständig auf Muslimen und ihrer Rückständigkeit oder was weiβ ich herum zu trampeln glauben müssen: Diese Familie ist muslimisch. Es spielt ja wirklich keine Rolle, zeigt aber nur noch einmal offen, wie dumm diese anti-islamischen Aussagen sind.

... link (0 Kommentare)   ... comment