Mittwoch, 22. Oktober 2014
Über Höflichkeit
Über Höflichkeit

Während den ersten Tagen und Wochen in Russland hatte ich ständig das Gefühl, etwas falsch zu machen, oder schrecklich unhöflichen Leuten zu begegnen: Im Supermarkt lief alles ohne Begrüβung, bitte, danke, „Auf Wiedersehen“, ab; auf der Straβe sahen mich andere Fuβgänger schamlos und direkt an, um dann ohne ein Lächeln oder gar Gruβwort vorbei zu eilen; wenn ich mich nicht richtig ausdrücken konnte oder eine Frage nicht verstand, wurde ich laut „angekeift“.

Dann habe ich herausgefunden, dass weder ich noch die anderen sonderlich unhöflich oder komisch sind: Es ist nur so, dass der alltägliche Umgang zwischen Fremden hier einfach anders ist als bei uns!

Erste, wichtige Regel: ein Lächeln verschenkt man nicht; es hat einen gewissen Wert. Das bringt mit sich, dass es absolut unüblich ist, aus Freundlichkeit zu lächeln. Wieso sollte ich einer Person, die mir in keiner Weise geholfen hat oder mich gar kennt, ein Geschenk machen?
Ähnlich sieht es mit „bitte“ und „danke“ aus: Bei uns handelt es sich oft nicht um mehr als Floskeln; hier benutzt man diese Worte, wenn man es auch von Herzen so meint! Es erscheint unglaubwürdig, einer Kassiererin so dankbar für das Einscannen der Waren zu sein, dass man dies berschwenglich zum Ausdruck bringen möchte.

Doch umso mehr Wert hat es demzufolge, wenn jemand „Spaciba“ sagt:denn dann meint er es auch wirklich so. Deshalb ist mir dieser Unterschied sogar fast Recht: Er gibt einem Dank auch den Wert eines Dankes.
Trotzdem stört es mich manchmal: Man sollte Floskeln erfinden , die man stattdessen benutzen sollte; allein schon wegen der Tatsache, dass mir diese Stille nicht behagt. Nicht um sie hier einzuführen: die Leute brauchen es nicht. Nein, damit bei uns auch ein „danke“ Dankbarkeit ausdrückt.

Ein Beispiel: Hier bin ich mir bewusst, dass der Dank einer Mutter nach einem Arbeitstag ehrlich gemeint ist. Und es kommt mir ebenfalls meinerseits bedeutsamer vor, wenn ich „gern geschehen“ antworte, als wenn ich eine halbe Stunde später im Supermarkt dasselbe zu einer unbekannten Verkäuferin sagen würde, die mir keinerlei echten Dienst erwiesen hat.

Glücklicherweise ist es hier üblich, frisches Obst und Gemüse, Kartoffeln und Honig am Markt einzukaufen: Denn dort kann man unbeschwert ein kurzes Schwätzchen mit den Verkäufern haben, um sicher zu gehen vor dem Kaufen probieren (vor allem Honig!!), eventuell ein bisschen feilschen, und somit auch einen offeneren Umgang pflegen kann, wenn man, wie ich, das Bedürfnis dazu vespürt.

Doch ebenfalls am Markt habe ich das erste Mal die Erfahrung gemacht, wegen Kommunikationsschwierigkeiten laut „angemacht“ zu werden: Als ich aber dann dank Wörterbuch und mehrfachen Wiederholungen verstanden habe, worin der Sinn bestand, wurde mir klar, dass die ältere Frau mir in Wirklichkeit helfen wollte!
Nach dieser Episode ist mir immer öfter aufgefallen, dass eine riesige Hilfsbereitschaft herrscht: Sobald jemand merkt, dass ich Hilfe brauche (im Supermarkt, in öffentlichen Verkehrsmitteln, auf der Straβe,...), spricht er mich an, um zu helfen-auch ohne zu wissen, dass ich Ausländer bin.
Wenn dann allerdings diese Tatsache offenkundig wird, verstärkt sich das Interesse und die Hilfe: Dies ist zunächst durch Neugierde begründet. Entgegen dem, was man bei uns oft glaubt, haben die wenigsten Russen etwas gegen die Ausländer aus Europa (so lange man nicht schwarzhäutig ist oder aus dem Kaukasus kommt, ist man ein guter Ausländer), und sind vor allem neugierig. In der Tat wissen sie kaum etwas über den Westen und dadurch werden wir zur Besonderheit.
Dieses Unwissen bringt allerdings auch mit sich, dass verschiedene die Reaktionen auf gewisse Nationalitäten oft vorraussehbar, witzig und manchmal erschreckend sind.
England? Ohh London!
Italien? Pizza! (Glücklicherweise nur extrem selten Berlusconi, auch wenn es in Samara ein Café gibt, das so heiβt...)
Deutschland? Entweder: Ohh interessant, Merkel. Oder, unangenehm: „Gitler (Hitler) kaputt“.
Dies zeigt, wie Propaganda im Allgemeinen den 2ten Weltkrieg „aktuell“ hält: Die Regierung in Kiew beispielsweise besteht aus „Faschisten“? Dann klingeln die Alarmglocken in den Köpfen der Menschen! Der Krieg nennt sich hier „der groβe patriotische Krieg“ und fing erst 1941 an.
Durch Aufopferung von Millionen (die deshalb ewig geehrt werden sollten) hat Russland diesen Krieg auch gewonnen.
Diese Tatsachen werden immer wieder unterstrichen. Doch zurück zum Thema..

Eben auch diese vereinfachten Bilder, die durch Unkenntnis entstehen, haben zur Folge, dass es trotzdem ratsam ist, nicht zu zeigen, dass man Ausländer ist. Es gibt hier, vor allem abends in kleineren Gassen, wie überall, Trottel, die es schlecht aufnehmen könnten.

So kommt es, dass mir allgemein klar geworden ist, dass die Menschen hier nicht die Unhöflichekeit verkörpern. Im Gegenteil: sobald man eine etwas engere Beziehung aufgebaut hat, sind die Leute bei weitem herzlicher als bei uns, wobei die Hilfsbereitschaft sowie die Gastfreundschaft manchmal so groβ sind, dass ich mich unwohl und als Ausbeuterin oder Schmarotzerin fühle, wenn ich sie annehme.

Den einzigen Unterschied, den ich mir wohl niemals erklären werden kann, ist das Verhalten unter Passanten: Das Anglotzen und schweigsame Vorübergehen.
Es ist mir genau so unangenehm wie unverständlich; da mir der Sinn dieses Benehmens nicht einleuchtet.
Es gehört also zu der Kategorie “Marotten, die man einfach akzeptieren muss,ohne sich an ihrer Umsetzung zu beteiligen“. Diese gibt es mit Sicherheit in jedem Kulturkreis. Sie sind höchstwahrscheinlich einfach menschlich.

... link (0 Kommentare)   ... comment