Montag, 17. November 2014
Familien-und Arbeitsportait
Eine oftmals wiederkehrende Frage betrifft konkret meine Arbeit: Dies rührt daher, dass sich diese nicht schnell und verständlich zusammenfassen lässt, sondern ich der Meinung bin, dass eine genauere Beschreibung sinnvoller ist, um Missverständnissen aus dem Weg zu gehen.
Es ist nämlich so, dass ich insgesamt 5 Familien regelmäβig besuche; und meine Arbeit in jeder grunsätzlich verschieden ist. In der Tat hängt sie vom Alter und dem Grad der Behinderung des Kindes ab (der bei Zerebralparese sehr unterschiedlich sein kann), sowie auch der Aktivitäten der Eltern.
Dies ist in jedem Fall ein groβer Vorteil für beide Seiten: Jedes Kind bekommt was es individuell braucht (da es kein Zentrum oder ähnliches gibt, wie bei uns, wo in Gruppen oder Klassen gearbeitet wird), und auch für mich wird es nicht langweilig.
Dieses System zeigt allerdings auch von vorne herein einen Nachteil auf: Die sozialen Kontakte und Beziehungen der Kinder werden stark eingegrenzt.

Dies vorweg gesagt, habe ich mir nun vorgenommen kleine Portraits der verschiedenen Familien und Kinder zu machen, und ein wenig zu beschreiben, worin meine Arbeit genauer besteht.


Salavat

Salavat ist ein 17-jähriger Junge; wenn man ihn jedoch sieht, würde man ihn um einige Jahre jünger einschätzen. Er kann weder laufen, noch sprechen, noch kauen noch hat er genug Kontrolle, um einen beliebigen Gegenstand auf Dauer festzuhalten. Seine Feinmotorik ist sehr beschränkt, um nicht zu sagen gleich null; und er hat Schwierigkeiten, seinen Kopf zu heben und seinen Rücken gerade zu halten, auch wenn er im Kinderwagen-Rollstuhl sitzt.
Intuitiv beschreibe ich diesen Jungen durch seine Mängel; allerdings finde ich dies selber falsch und unzulänglich: Obschon es eindeutig ist, dass er niemals ein selbststäniges Dasein in einem noch so beschränkten Ausmaβ führen wird, ist sein Leben an sich nicht schrecklich. Das einzige, was ihn beständig plagt, sind Schmerzen, die von starken Krämpfen ausgehen.
Man kann Salavat jedoch nicht als dumm beschreiben: Fest steht jedoch auch, dass seine intellekuellen Fähigkeiten begrenzt sind. Wie weit sein Verstand genau geht ist dabei unheimlich schwer zu sagen, weil er sich nicht so detailliert mitteilen kann.
Und doch kann man erstaunlich viel mit ihm machen; was auch daher kommt, dass seine Eltern intelligent genug sind (was nicht immer der Fall ist), ihn überall mit einbeziehen zu wollen, soweit dies möglich ist, und ihn so als Menschen und nicht als Behinderten behandeln. Hierbei ist es ein Vorteil, dass er nicht sonderlich schwer ist, und somit in Kinderstühle passt. In der Tat ist er klein für sein Alter und zudem sehr schmal, was auf seine Behinderung zurück zu führen ist.
Ich gehe 1-2 Mal die Woche zu ihm, wobei ich am frühen Nachmittag ankomme, da er lange schläft und den Schlaf auch braucht, weil jede Bewegung für ihn doppelt anstrengend ist. Meistens essen wir dann zusammen (wer möchte schon alleine essen?)-wobei seine Mutter ihn füttert (er kann nur Püriertes zu sich nehmen, sodass seine Mutter ihm einfach die Gerichte zusammen püriert), und trinken Tee (wir sind ja schlieβlich in Russland). Auch hier ist die Mutter (Faijna) wunderbar: Da er keine Kekse oder ähnliches essen kann, macht sie ihm eine Art Brei aus Keksen, Wasser und Milch, den er auch nur bekommt (manche Kinder sind so schrecklich verhätschelt), wenn er sich beim Essen nicht aufgeführt hat und die ganze Küche, inklusive Faijna und mich vollgesprüht hat, was ab und zu vorkommt.
Danach gehen wir meist 1-2 Stunden spazieren, was er liebt und Faijna erlaubt, sich um den Haushalt und sich selbst zu kümmern. Jetzt, da es kalt ist, wird er einfach schrecklich dick eingemummelt und dann wird ihm auch nicht kalt. Ich muss nur daran denken, ihm den Mund zu putzen (da er manchmal mehr, manchmal weniger sabbert), da sonst der Speichel gefriert und es schmerzhaft werden könnte.
Nach dem Spaziergang trinkt er wieder Tee um sich aufzuwärmen, und bekommt Bananenbrei, weil er allgemein dazu tendiert, Durchfall zu haben. (Er kann glücklicherweise mitteilen, wann er aufs Klo muss; falls es nur klein ist, pieselt er in eine Flasche, was ich auch hinkriege; wenn es gröβer ausfällt, setzt seine Mutter ihn auf den Topf.)
Danach hängt es ganz von seiner Laune ab, was folgt: Entweder stecken wir ihn in den Vertikalisator (was er mag, und oft möchte), und ich wandere eine bis anderthalb Stunden mit ihm durchs Haus (was glücklicherweise durch ein geräumiges Wohnzimmer und einen breiten Gang genug Platz für seine Aktivitäten bietet). Dabei „erzählt“ er oft und viel; manchmal sehen wir fern, manchmal spielen wir gleichzeitig mit einem Ball. Ab und zu singen wir (also er lautiert dann) auch zusammen, sehr zur Belustigung seiner Mutter.


Vertikalisator (Parapodium)

Manchmal fährt er auch auf seinem speziellen Fahrrad-wenn er in Form ist, bis zu 3-4 Stunden! Meine Aufgabe besteht darin, ihn zu motivieren, und ihn zu stoppen, falls er droht, in eine Mauer, einen Schrank oder sonst ein Hindernis zu rasen. Ich helfe ihm ebenfalls beim Lenken, da er halt öfters die Kontrolle über seine Arme verliert.


Spezielles Fahrrad, ähnlich wie Salavats

Diese Geräte (die seine Eltern selbst bezahlen mussten, weil es kein richtiges Gesundheitssystem in Russland gibt) sind, abgesehen davon, dass es ihm Spaβ macht, wichtig für ihn, da sein Körper alle möglichen Positionen einnehmen sollte: liegen, sitzen, stehen,...
Wir spielen aber auch oft, wobei er dann entweder im Kinderwagen sitzt oder auf dem Bett liegt: mit kleinen Bällen, meinen Rasseln, Massage-Autos (kleine Spielautos, die ich über ihn fahren lasse, und die ihn massieren),...Ab und zu dann schauen wir uns auch Bücher an oder ich lese ihm vor. Da er allgemein Musik mag, spiele ich ihm auch auf der Trompete vor. Es kommt auch vor, dass er einfach erzählt und ich ihm „zuhöre“, wobei dies eine seltsame Situation ist, weil ich ihn ja nicht verstehe.
Er allerdings versteht alles und ist sogar zweisprachig: seine Familie ist tatarisch; er versteht also russisch und tatarisch.
Gegen abend essen wir dann nochmal; entweder warm oder Tee, und dann ist der Tag gelaufen.
Da all diese Abläufe nicht flieβend sind, sondern Zeit brauchen, oft unterbrochen werden müssen, und aufwändig sind, fliegt einem hier die Zeit davon.
Meistens vergessen wir auch, wie spät es ist, und irgendwann kommt Faijna angelaufen und schickt mich nach Hause, weil es schon nach 8 ist.

In dieser Familie fühle ich mich wohl, und ich habe Salavat richtig lieb gewonnen: Denn anders, als man es annehmen könnte, kann er sich doch ein wenig ausdrücken und lachen und Charakter zeigen. (Da seine Ausdrucksmöglichkeiten allerdings anders sind, ist es nicht immer einfach zu verstehen, was er möchte; aber mit etwas Geduld wird es dann aber meistens klar.)
Dies ist natürlich auch seinen Eltern zu verdanken, die ihn so erzogen, und ihn nicht verhätschelt und überbeschützt haben.


Spendenanzeige im Aufzug. Ich habe an sich keine genaue Vorstellung davon, wie das mit den Spenden funktionniert; bin aber relativ sicher, dass diese vor allem von privaten Personen kommen und über Organisationen laufen, bei denen man sich bei Bedarf melden kann.

Kolja

Kolja ist 22 Jahre alt und in einem ähnlichen Zustand wie Salavat; allerdings kann er ohne Hilfe sitzen, mit Hilfe laufen (wenn auch nich weit und sehr unsicher), kann seine rechte Hand zum Greifen benutzen, und hat allgemein mehr Kontrolle über sich, weshalb er sich besser mitteilen kann, beispielsweise mit nicken und verneinen. Er putzt sich auch, wenn man ihn darauf aufmerksam macht, allein den Speichel weg.
Trotzdem ist er sehr unselbstständig, wenn es auch leichter ist, mit ihm umzugehen, und er konkrete Interessen hat:
Zunächst liebt er Musik aller Art: Von morgens bis abends sieht er ru.tv (wie MTV bei uns) und man merkt ganz genau, welche Lieder ihm besonders gefallen: Dann wippt er richtig auf und ab und singt (auf seine, unbeholfene, Art) mit. Doch auch wenn ich ihm vorspiele rasselt er im Takt mit und freut sich.
Ansonsten schaut er sich gerne Zeitschriften an, und wenn ihm ein Bild oder Foto besonders gefällt, möchte er wissen, wer darauf abgebildet ist, und je nach dem kann man eine Kollage mit ihm machen: Er zeigt auf die Fotos, ich schneide sie aus, und klebe sie auf eine leeres Blatt. Dann kann ich malen, beschriften, mir eine Geschichte ausdenken, die je nach dem nächsten Bild anders weitergeht. Bei der ganzen Sache fällt sofort auf, dass er (ohne jeglichen Grund) in Putin vernarrt ist; genauso aber in einige unbedeutende Schauspieler.
Und schlieβlich spielt er unglaublich gerne Fuβball, auf seine Weise: Er hat einen Plastikball, mit dem er sich stundenlang amüsieren kann: Er schieβt ihn mir zu, ich zurück, dann er in eine Ecke usw. Manchmal kommt ein wenig Abwechslung dazu; nämlich wenn wir auf Handball übergehen, wobei das Spiel elementar dasselbe bleibt. Während dieser Zeit bleibt der Fernseher (wir sitzen meist im Wohnzimmer, wo sich alle diese Aktivitäten wunderbar machen lassen) an, und wenn eines seiner Lieblingslieder oder -werbungen kommt, schauen wir sie uns an, und dann geht es weiter.
Wenn ich bei Kolja bin, gibt es jedoch einen grundlegenden Unterschied zu Salavat: Seine Mutter geht nach einer Viertelstunde (ich gehe morgens hin) arbeiten und wir bleiben 4-5 Stunden alleine. Da er seinen Willen mitteilen kann ist das an sich kein Problem; da wir einfach machen, worauf er Lust hat: Anfangs meist Musik hören und mitrasseln, dann Zeitschriften durchblättern und basteln, dann, manchmal auch während über 3 Stunden, Ballspiel. Wenn ich Durst habe kann ich mir in der Küche Tee kochen (Wasser trinkt man in Russland eigentlich nie pur). Er muss dafür warten, bis Lena (die Mutter) zurück kommt, weil ich ihm nicht zu trinken oder essen geben kann. Es ist nämlich so, dass selbst wenn Lena, die immerhin 22 Jahre Erfahrung hat, ihn füttert, viel daneben geht, und ich mir nicht ausmalen möchte, wie es bei mir aussehen würde. Zudem ist Kolja daran gewöhnt und angeblich macht es ihm auch nichts aus.
Bisher ist immer alles ruhig verlaufen, weil mich Lena am Anfang gewarnt hat, wovor er Angst hat: Männer mit Bärten, inklusive dem Weihnachtsmann (falls ein solches Bild im Fernsehen oder in einem Magazin erscheint, wird er ganz aufgeregt, es legt sich aber sofort wieder, wenn ich darauf eingehe (indem ich darauf poche, dass keine Gefahr besteht und dann schnellstmöglich das Thema wechsele), laute Geräusche, Hunde. Das lässt sich ja alles problemlos vermeiden, bringt allerdings mit sich, dass er nur ungern das Haus verlässt und so noch stärker isoliert ist.
Wenn die Mutter von der Arbeit kommt (und die 12-jährige Schwester aus der Schule), kocht sie und wir essen zu Mittag. Danach reden wir noch ein wenig zusammen, manchmal spielt die Schwester auf dem Klavier, manchmal hören wir uns klassische Musik auf CD’s an, und dann gehe ich am späten Nachmittag nach Hause.
Obschon sich das eher ruhig anhört, sind das anstrengende Tage, vor allem, wenn er sich auf den Ball fixiert hat, und gar nicht mehr aufhören möchte.
Trotzdem freue ich mich auch auf den Freitag (da ich meistens dann hingehe), weil mir die ganze Familie (auβer dem Vater, weil ich ihn noch nie gesehen habe) sympathisch ist.

Demid, Makar und Wassilisa

Demid und Makar (2 Jungs) sind 4-jährige Zwillinge, Wassilisa ihre alleinerziehende (und etwas durchgeknallte) Mutter. Demid ist an sich ein gesunder Junge; er ist nur weniger entwickelt und kleiner, als es für sein Alter üblich ist. Makar hingegen hat einige Schwierigkeiten: er kann nicht laufen und nur mit Stütze sitzen; und er artikuliert schlecht; zudem schielt er und hat eine schwache Feinmotorik (auch bei Demid fällt dies auf).
Um dies zu ändern (da er noch klein ist, kann sich noch einiges bessern), hat die Mutter sich dazu entschlossen (wahrscheinlich sofort nach der Geburt), mit ihnen eine besondere Therapie zu machen: Patterning. Diese besteht darin, 6 mal täglich während 10-15 Minuten, während Makar auf dem Bauch liegt, seine Arme, Beine und seinen Kopf zu bewegen, etwa, als ob ein Frosch schwimmen würde. So sollen die Rezeptoren im Gehirn stimuliert werden: Für diese Aktion sind 3 Leute notwendig, weshalb immer 2 Freiwillige gleichzeitig hingehen. Dies ist auch allgemein von Vorteil, weil Wassilisa mit der Situation oft überfortdert ist, und es gut ist, wenn jeder sich um einen Zwilling kümmert, vor allem, weil Demid schrecklich eifersüchtig ist.
Diese Therapie beinhaltet auch, dass man dem Kleinen, bestenfalls 60 mal am Tag, in Abständen von mindestens 5 Minuten, während ungefähr 60 Sekunden ein Plastiksäckchen über den Mund und die Nase stülpt, damit er seinen Atem wieder und wieder atmet und somit hyperventiliert: Dies soll die Lungen stärken.
Diese ganzen Prozeduren sind aufwendig: mit Stoppuhren, Strichlisten und Uhren wird das alles protokolliert.
Doch damit nicht genug: Die Mutter möchte unbedingt, dass die Kinder lesen lernen, wobei sie noch nicht einmal anständig sprechen. Zu diesem Zweck hat sie tausende Kärtchen mit beschrifteten Bildern, und kleinen Sätzen. Es ist jedoch so, dass sie absolut nicht lesen können, und nur raten, beziehungsweise einige Wörter schon auswendig kennen, ohne, dass man es „lesen“ nennen könnte, was in ihrem Alter ja auch normal ist.
Weiter: Seit Neustem sollen wir 1 Stunde am Tag Englisch mit ihnen reden, damit sie auch damit vertraut werden.
Dabei wollen sie an sich nur spielen: Makar mit einem kleinen Ball, den wir entweder hin- und herwerfen, oder ich besonders hoch oder mit dem Kopf oder auf sonst eine Weise herumschieβen soll.
Demid spielt, wie jedes kleine Kind gerne mit Bausteinen, Autos, Plüschtieren oder tobt herum. Das machen wir auch, wenn wir nicht gerade mit der Therapie beschäftigt sind oder die Mutter Makar sonst irgendwie behandelt. Da wir immer 2 Freiwillige sind (oder meistens) ist das auch meist ganz lustig.
Doch ab und zu kommt dann Wassilisa mit Vitaminen oder anderen Medikamenten: Diese brauchen sie nicht, weil sie Zerebralparese haben (jedenfalls nicht nur), sondern, weil die Mutter der festen Überzeugung ist, dass sie weder Gluten, noch Milchprodukte noch Zucker zu sich nehmen dürfen, da dies, aus absurden Gründen, gesundheitsschädlich ist, und sie sich deshalb alternativ ernähren. Damit es dann aber nicht an wichtigen Stoffen mangelt, müssen sie diese künstlich einnehmen.
Jedenfalls vergeht die Zeit, durch all diese Aktivitäten und Aufregungen, hier besonders schnell. Wir kommen meistens gegen 10 Uhr dort an, und nach 4-6 Stunden, je nach dem, wann sie zur Oma fahren oder sie zu ihnen kommt, machen wir sie fertig (die Kleinen haben während der ganzen Zeit bloβ Unterhose und Unterhemd an) und gehen dann, mit ihnen, raus.
An sich sind die beiden ganz liebe Kerle, leider verzieht die Mutter sie jedoch schrecklich: Man darf sie nur mit Samthandschuhen anfassen, und ihnen nicht zu nahe treten, oder gar mit ihnen schimpfen.
Dies erklärt sich aber wahrscheinlich dadurch, dass sie mit der Situation überfordert ist: Diese Tatsache wird schon klar, wenn man die Wohnung betritt, da diese ein Saustall ist, der ab und zu von uns aufgeräumt wird. Sie ist auch ein Beispiel von einer Person, die allein durch Spenden (sie hat beispielsweise eine Internetseite, durch die sie sich Hilfe fragt und ihre Ausgaben konkret dokumentiert um zu zeigen, dass sie das Geld wirklich braucht: http://www.helps-kids.ru) und anderen mysteriösen Geldquellen lebt, jedoch nicht arbeitet (wie sollte sie auch). Der Vater ist jedenfalls nicht präsent, auch wenn ich nicht weiβ, ob er in irgendeiner Form finanzielle Unterstützung gibt, was ich jedoch stark bezweifle.
Solange die Jungs klein sind, kann man diese Situation ja noch durchgehen lassen; aber ich hoffe, dass sie die beiden in zwei Jahren, wenn möglich beide, normal in die Schule schickt. Wie sonst sollen sie lernen, mit ihrer, doch recht schwachen, Behinderung umzugehen?


Aljoscha

Aljoscha ist, wie Kolja, 22 Jahre alt. Anders als bei diesem ist seine Behinderung rein körperlich: Er kann an sich nur sein Gesicht bewegen und kontrollieren: Der Rest seines Körpers ist für ihn unkontrollierbar.
Er kann jedoch, wenn auch nur mit riesiger Anstrengung und Schweiβausbrüchen reden. Zudem ist er bei klarem Verstand: Er hat auch studiert und ist Graphiker; und kann sogar Englisch, was in Russland noch immer eine Besonderheit ist.
Wenn ich zu ihm gehe, besteht meine Aufgabe darin, seine Hand am Computer zu sein, und das auszuführen, was er möchte. Wenn seine Aussprache etwas besser wäre, könnte er das mit einem Diktiergerät, das an den PC angeschlossen ist, machen-doch leider ist das nicht möglich.
So vergeht die Zeit hier; und wenn er keine Ideen hat, reden wir einfach, oder ich zeige ihm Sachen auf Internet.
Es ist keine anstrengende Arbeit: Es geht auch darum, dass er ohne Gesellschaft vereinsamen würde. Denn er lebt mit seiner Mutter und seinem blinden Vater zusammen: Sie gehen nur selten weg; und wenn, dann muss das im Vorraus sorgfältig geplant werden.
Er ist unter all meinen „Kindern“ der, der, meiner Meinung nach am meisten unter seiner Behinderung leidet: Denn er ist sich ganz genau bewusst, welche Grenzen sie ihm setzt; und, dass er immer auf andere angewiesen sein wird.
Trotzdem ist er eigentlich immer gut drauf und es ist immer anregend und interessant mit ihm, und auch seiner Mutter, zu reden.

Anja und Aljona

Anja und Aljona sind 16 Jahre alt und Zwillinge (Zerebralparese tritt oft bei Zwillingen auf, da die Nabelschnüre Probleme bereiten können): Sie gehen normal zur Schule und haben an sich kaum Probleme: Anja läuft normal, aber etwas schwerfällig; Aljona sehr schlecht, und, für längere Strecken, nur mit Stütze. Da Anja ihrer Schwester diese Hilfe nicht geben kann, brauchen sie einen, der sie von der Schule abholt und mit ihnen, etwas über einen Kilometer, nach Hause geht, wenn die Mutter arbeitet und sie nicht abholen kommen kann.
Ansonsten kommen sie aber, logischerweise, ganz gut alleine klar. Meine Aufgabe, nach dem Nachhauseweg, besteht also darin, ihnen Gesellschaft zu leisten, zu reden, zu kochen (zum Beispiel habe ich mit ihnen Pizza gebacken), oder ihnen, wenn nötig, bei den Hausaufgaben zu helfen.
Es ist immer lustig mit ihnen, vor allem, weil Anja fanatisch an Europa interessiert (sie kennt den U-Bahn-Plan Londons auswendig ohne jemals dort gewesen zu sein) und Aljona, quasi aus trotz, auf Russland fixiert ist.
So gibt es immer Diskussionen, wobei ich diese meist schlichten muss.
Ich gehe an sich gerne hin, und bleibe auch immer lange, bis die Mutter von der Arbeit kommt (damit auch Leute, die irgendwie ein Problem mit den beiden hätten, wissen, dass sie nicht alleine sind, und so gar nicht auf die Idee kommen, sie irgendwie zu belästigen) aber es ist auch ehrlich gesagt, die am wenigsten sinnvolle Arbeit, da es eigentlich nicht notwendig ist.
Die ganze Sache ist zwar insofern sinnvoll, dass ein kultureller Ausstausch stattfindet, jedoch ist das nicht der eigentliche Zweck meiner Aktivitäten. Trotzdem ist es in dem Sinne wichtig, da sie sich so sicherer fühlen und ein Problem weniger, eben den Nachhauseweg, bewältigen müssen.



Es fällt also auf, dass jeder Arbeitstag sehr verschieden ist; und genau dies mag ich an meiner Arbeit auch zusätzlich: Die Routine kann mich nur schwer einholen, da es keine gibt. Vor allem an den Tagen, an denen ich das Gefühl habe, wirklich etwas zu bewirken und den Kindern etwas zu geben, das ihnen konkret hilft.

Allerdings habe ich Bedenken, was ein Problem betrifft: Ich habe keinerlei Sicherheitsdistanz zu irgendeinem, mit dem ich arbeite, getroffen. Dieser Umstand, ich sehe es ein und fürchte mich auch davor, bringt mit sich, dass ich, egal durch was, verletzlich, weil persönlich beteiligt, bin.
Doch ehrlich gesagt ist es jetzt erstens zu spät, um dies rückgängig zu machen, und zweitens, sind diese Familien für mich (zumindest die meisten) auch Freunde geworden. Und wenn man sich nicht an Freunde binden kann, an wen sonst?

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