Mittwoch, 15. Oktober 2014
Als ich noch zu hause war, und erzählt habe, dass ich für längere Zeit nach Russland gehe, waren die Reaktionen im allgemeinen negativ: als ob ich in ein komplett barbarisches Land ohne Maβen und keinerlei Kultur gehen würde.
Dem ist definitiv nicht so! Gut, es gibt natürlich Unterschiede im Alltag, die erst mal befremdend erscheinen; beispielsweise die Tatsache, dass oft ohne Messer gegessen wird oder, dass Höflichkeit anders ausgedrückt und interpretiert wird als bei uns.

Allerdings gibt es auch einen groβen Flügel der Kultur, der hier mindestens so weit entwickelt und sicherlich stärker unterstützt wird als bei uns, weil er einen anderen Stellenwert genieβt: Musik.
Von der musikalischen Erziehung, über Förderung bis zu Konzerten und Vorstellungen, ist so ziemlich alles anders organisiert als bei uns (so weit ich das als Auβenstehende beurteilen kann).

In den öffentlichen (also gebührenfreien) Schulen, vor allem in der Grundschule, aber auch, wenn auch von den Einrichtungen abhängig, später in Gymnasien, wird viel Wert auf Musik gelegt: Wer Interesse zeigt, und irgendwie Talent hat, kann besondere Klassen besuchen (von Anfang an, glaube ich), in denen ein spezieller Musikunterricht angeboten wird. Da die Musikschulen (es gibt über 20 Einrichtungen der öffentlichen Musikschule allein in Samara) oft in dem selben Gebäude wie die Grundschulen untergebracht sind, ist die Organisation hierbei ohnehin erleichtert. So lernt in diesen Klassen jeder Schüler ein Instrument seiner Wahl und singt im Chor.



Das klingt jetzt nicht so besonders, Musikunterricht gibt es ja auch bei uns. Ich hatte allerdings die Möglichkeit, Aufnahmen von einer Schulaufführung anzuschauen: Ich habe mich geschämt, allein in Betracht ziehen zu können, sie mit einer meiner Schule zu vergleichen: Es war wirklich fast professionell! Ich bin mir nicht sicher, ob es in Luxemburg überhaupt einen Kinderchor gibt, der eine ähnliche Leistung aufweisen kann. Dabei muss berücksichtigt werden, dass es in diesem Fall ja bloβ von der Schule ausgegangen ist.
Der Druck wird relativ hoch sein; aber das Resultat kann sich definitiv sehen lassen. Die Instrumentalerziehung, die aber enger an die Musikschulen gebunden ist, hat ebenfalls ein hohes Niveau.
Abgesehen davon, ist auch die Tatsache, ein Instrument zu spielen und Musik zu machen, erstens weiter verbreitet, sogar sehr populär, und zweitens als nützlicher und begehrenswerter als bei uns angesehen. Dies zieht dann natürlich auch mit sich, dass die Leistungen höher sind. Jedenfalls können unsere Institutionen von solchen Statistiken träumen. Denn, anders als bei uns, ist der Unterricht und der Verleih für Schüler ebenfalls für Eltern mit mageren finanziellen Möglichkeiten erforderlich. In der Tat kosten Verleih, Privatstunden und Chor zusammen, wenn man bedenkt, wie viel das Geld hier wert ist, ungefähr so viel wie bei uns ein Jahresbeitrag in einem Sportverein(der hier wiederrum oft teurer ausfällt.)

Wenn man mit einem solchen System, dessen genauen Aufbau und Ablauf ich zwar keineswegs genau durchschaue, aber ansatzweise verstehe, konfrontiert ist, verspüre ich eher Bewunderung und etwas Neid als irgendeine Form von Überlegenheit, die doch im Vergleich mit dem „rückständigen Russland“ bei uns so verbreitet ist.

Es ist, angesichts dieser Tatsachen, also ohne Frage, dass talentierte Kinder und Jugendliche gefördert werden: zahlreiche Solos, Einzelauftritte oder Duette sind in die Aufführungen eingebaut; wer motiviert ist, kann also sicherlich weit(er) kommen.
Man kann höchstens die Tendenz aufzeigen, dass eher Klassiker und „brave“, oft auch folkloristische oder patriotische Musik gespielt wird, als jetzt experimentelle, moderne oder „schwer verdauliche“ Stücke.
Dieses Phänomen betrifft allerdings ebenfalls die öffentlichen Konzert-, Opern-, und Ballethäuser. Die Programme bestehen quasi ausschlieβlich aus groβen, aber altbewehrten Klassikern: Tschaikovsky, Puccini, Verdi beispielsweise.
Das sagt allerdings noch nichts über die Form und die Qualität aus. Zudem sollte man berücksichtigen, dass Samara, verglichen mit Moskau oder St. Petersburg eine Provinzstadt ist, und keine Metropole. Abgesehen davon, kenne ich (noch) keine kleinen Orte, wo auch eventuell das Angebot verschiedene Kategorien beinhaltet.
Zuerst einmal sind die Preise grundverschieden: Für eine 3-stündige Oper bezahlt man allerhöchstens, für die besten Plätze, umgerechnet 25-30€. Normale Plätze ab 5-7€, wobei dies für Normalsterbliche völlig ausreicht.
Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob es an den Preisen oder der allgemein höheren Musikkultur liegt, aber das Publikum ist ebenfalls anders als bei uns: Es fällt sofort auf, dass man in Russland sein muss, weil die meisten schrecklich herausgeputzt sind, vor allem die Frauen. Aber anders als bei uns, ist das Durchschnittsalter klein: Viele junge Leute (übrigens, wie überall hier, vor allem Paare), die sich aus freien Stücke 3 Stunden Gesang reinziehen!
Hier ist es so normal in die Oper zu gehen, wie ins Kino; Geschmackssache, auch Abwechslung. Es fällt auch auf, dass die Preise fast dieselben sind, wobei ein Film eher teurer als die Oper ist als umgedreht.

Kann man es da wagen, von Unkultur zu reden, nur, weil die Gewohnheiten und die Politik verschieden sind? Sollten wir uns da nicht eine Scheibe abschneiden?
Ich würde jetzt nicht behaupten, dass ich nach diesem Mal ein Opernfan geworden bin, das bleibt immer noch eine Frage der Vorlieben, aber die Offenheit gegenüber dem „Alten“, der Musik (die halt nicht spritzig und funkelnd wie eine Komödie ist, obschon auch das Opernhaus schön und schillernd ist) gilt es trotzdem zu untersteichen.

Bei uns musste ich mich fast verstecken, wenn ich „zugab“, klassische Musik zu mögen. Ist das nicht viel eher barbarisch? Denn hier ist es sogar so, dass eine der bekanntesten und populärsten russischen Rockgruppen (Bi-2), klassische Musikinstrumente einbaut. Bestes Beispiel ist wohl der Rocker, der seine Querflöte auspackt und ein Solo hinschmeiβt, das sich sehen lassen kann.



Nicht viel anders sieht es, nebenbei gesagt, mit Kunst aus: Nur, dass ich mich in diesem Gebiet einfach nicht genug auskenne um Vergleiche anzustellen.
Aber wenn eine Ausstellung zeitgenössischer Künstler, in der man locker eine Dreiviertelstunde verbringen kann, ohne sich jedes Bild im Detail anzuschauen, nichts kostet, aber, weil einige nackte Menschen abgebildet sind, erst ab 18 freigegeben ist, gut besucht ist, wobei man vor allem Paare aller Altersklassen vorfindet, braucht man sich jedenfalls nicht zu wundern, dass (oder wenn?) man in Samara wohnt.

... comment